September 2002
von Patrick Armbruster
Es war früher Morgen. Der Tümpel wirkte wie ein mit Öl
gefülltes Loch, ich hatte das Gefühl, dass ich einen Stein auf seine Oberfläche
hätte werfen können, ohne dass er gleich gesunken wäre. Die Sonne selbst war am
Horizont noch nicht sichtbar, aber sie spendete indirekt bereits genügend
Licht, dass ich mein Spiegelbild sehen konnte. Es war noch dasselbe. Und nicht
meines.
Vor fünf Wochen hatte ich das erste Mal die Veränderung in meinem Spiegelbild
entdeckt. Damals war sie mehr eine Ahnung gewesen. Etwas an meinem Blick
stimmte nicht. Aus dem Spiegel sah mich zwar jemand an, aber es war nicht mein
Blick, der mich musterte. Der Blick des Anderen wirkte spöttisch. Als wollte er
sagen: Da bin ich also gelandet.
In den Tagen darauf beobachtete ich mein Spiegelbild oft, wie es mich
beobachtete. Ich hatte das klare Gefühl, dass in meinem Spiegelbild ein fremder
Mann wohnte, ohne dass ich in meinem eigenen Kopf das Gefühl hatte, dass etwas
von mir Besitz zu ergreifen versuchte. Das klingt schwer vorstellbar, schwerer
jedenfalls, als hätte ich in mir dieselbe Veränderung verspürt. Aber nein: Es
war nur das Bild im Spiegel.
Dann begann ich eines Nachts, als ich aus einem wirren Traum aufwachte und mich
wieder im Spiegel betrachten wollte, das Wesen als das zu sehen, was es war,
anstatt dass es mich aus meinen eigenen Augen anblickte. Es war keine langsame
Veränderung. Seit jener Nacht sah ich, wann immer ich mich in einem Spiegel
sah, nicht mein eigenes Gesicht, nicht meine eigene Gestalt, sondern einen
Mann, der ein wenig grösser und hagerer als ich war. Seine Wangen waren
eingefallen, mehr noch als meine. Seine Blick war
stechend, er beobachtete mich nicht länger spöttisch, denn er kannte mich
mittlerweile. Sein Haar war nicht wie meines blond, sondern eine Mischung aus
Braun und Grau. Er war deutlich älter als ich. Dennoch erkannte ich auch eine
Ähnlichkeit zu mir, was aber wohl daran lag, dass etwas von mir noch immer im
Spiegel zu erkennen war.
Warum ich nun an einem frühen Morgen zu diesem Teich gekommen war, hatte einen
einfachen Grund. Ich hatte in den letzten Wochen Ärzte aufgesucht. Zunächst den
'Arzt meines Vertrauens', meinen Hausarzt. Er hatte mein Spiegelbild lange Zeit
betrachtet, indem er hinter mir gestanden hatte. Doch hatte er mir nichts
weiter zu sagen, als dass ich vielleicht unter Halluzinationen litt. Er empfahl
mir, einen Psychologen oder Psychiater aufzusuchen. Ich tat beides. Und suchte
danach zwei weitere Ärzte auf. Niemand konnte oder wollte mir weiterhelfen. Die
Psychiater wollten mir natürlich Medikamente dagegen verschreiben, aber davon
hielt ich nichts, zumal ich nicht annehmen konnte, dass ich an einer Halluzination
litt. Ich hatte nämlich das Gefühl, bei bester Gesundheit zu sein. Ich litt
auch nicht unter Stresssituationen. Im Gegenteil fühlte sich mein Leben ruhig
an. Doch als ich diesen Gedanken vor einem Psychologen formuliert hatte,
versuchte der mir einzureden, dass gerade in Situationen der Ruhe Menschen wie
ich sich abenteuerliche Geschichten einzureden vermochten. Menschen wie ich!
Der Mann kannte mich seit zwanzig Minuten und glaubte mich zu kennen.
Nun, ich suchte dann etwas stärkeres. So ähnlich, wie
Menschen, wenn ihre Kopfschmerztabletten nicht wirken, eine stärkere Substanz
um Hilfe bitten, versuchte ich es, anstatt weitere Quacksalber aufzusuchen, bei
einer Hexe. Nicht bei einer dieser New-Age
Schwestern, nein, bei einer alten Voodoo-Zauberin. Ich weiss nicht mehr genau,
welcher meiner Bekannten es war, der mich ihr einmal vorgestellt hatte, aber
ich hatte mir damals ihre Adresse notiert, weil ich den Gedanken, eine echte
Voodoo-Zauberin zu kennen, amüsant fand. Jedenfalls suchte ich sie auf und erzählte
ihr meine ganze Geschichte. Und sie brachte mich auf den Teich. "Gehen Sie
an einem frühen Morgen an einen Teich - bevor noch die Sonne aufgeht. Sprechen
Sie Ihr Spiegelbild an, währen die Sonne aufgeht. Bringen Sie einfach in
Erfahrung, was das Spiegelbild Ihnen mitteilen will."
Sie verlangte für diesen Ratschlag hundert Schweizer Franken, weswegen ich
gewillt war es zu probieren. Schliesslich werfe ich nicht so viel Geld einfach
zum Fenster hinaus.
So sass ich nun an diesem Teich, und während die Sonne aufging, fragte ich mein
Spiegelbild, welches mich mit stechendem Blick, braungrauem Haar, eingefallenen
Wangen und etwas grösser und hagerer als ich anstarrte, weswegen es mich
aufgesucht hatte.
Zu meiner eigenen Überraschung erhielt ich eine einfache, wenn auch im ersten
Moment inakzeptable Antwort: "Ich bin Dein Spiegelbild. Du bist nur
langsam zu alt, um akzeptieren zu wollen, dass Du alt bist."
Ich habe seither einfach die Spiegel in meiner Wohnung abmontiert, um mich
nicht mehr darin ansehen zu müssen.